Von Alt Garge an die Adria – zu Fuß

Unterwegs auf dem Europäischen Fernwanderweg E6 – Begegnung mit einem Fernwanderer

Immer mehr Menschen entdecken gerade ein neues Hobby: das Spazierengehen in der Natur! Und wer wie ich in der Elbtalaue wohnt, konnte sich besonders in Zeiten von Corona glücklich schätzen über die vielen Möglichkeiten zum Wandern, die sich uns hier bieten. Während viele Städter heftig unter den Einschränkungen litten, habe ich es genossen, viel Zeit dafür zu haben, unsere Heimat auf Schusters Rappen zu erkunden. Ich war dabei oft auf einem Weg unterwegs, dessen Verlauf mit einem liegenden Kreuz X gekennzeichnet ist. Diese Markierung ist wohl fast jedem Spaziergänger schon aufgefallen. Sie kennzeichnet bei uns den Europäischen Fernwanderweg E6.

„Wissen Sie, wer diesen Weg eingerichtet hat?“

Auf unterschiedlichen Touren beeindruckte mich die ganze Mannigfaltigkeit der Eindrücke in unserer Region. Weite Ausblicke, gefolgt von Kulturland mit  Wiesen und Äckern rund um beschauliche Dörfer wechselten sich ab mit dunklen Kiefernbeständen, auf verträumte Buchen- oder lichte Eichenwälder folgten romantische Heidelandschaften…

Zu den besonderen Höhepunkten bei vielen Perspektivwechseln gehört sicher der Eindruck der teils umgestürzten bizarr-knorrigen Baumriesen im Breeser Grund, erlebt an einem nebeligen Sonntagmorgen.

14 Tage später erlebte ich einen magischen Moment beim weiten Blick vom Turm auf dem Hohen Mechtin über ein Panorama schneebedeckter Baumwipfel.

Bei einer meiner Touren sprach mich beim Bahnhof Leitstade vor einem Informationsschild eine Wanderin an: „Stimmt das wirklich, dass dies ein durchgehender Weg zur Adria ist? Und wissen Sie,  wer den Weg geplant und eingerichtet hat?“

Diese Fragen fand ich sehr berechtigt und wollte es eigentlich selbst auch schon länger wissen. Ich fing an zu forschen und fand zunächst ein paar allgemeine Informationen im Internet bei Wikipedia.

60000 Kilometer Weitwanderwege in Europa

Ich erfuhr, dass die Europäischen Fernwanderwege der organisierten Wanderbewegung zu verdanken sind. Die Europäische Wandervereinigung war Ideengeber. Ein Ziel im Jahr 1969 war es, ein völkerverbindendes Netz von Weitwanderwegen durch Europa zu schaffen. Im Laufe der Jahre wurden auf dieser Basis zwölf große Fernwanderwege eingerichtet. Deren Gesamtlänge beträgt ungefähr 60000 km.

Der hiesige E6 ist ein ehrgeiziges Projekt, dessen Planung am 6. Oktober 1973 begann. Nach endgültiger Fertigstellung soll er durchgängig vom nördlichen Finnland über mehrere tausend Kilometer über Griechenland bis in die Türkei führen!

Rege Wandergruppen überall in Mitteleuropa

Umgesetzt haben diese großartige Idee aktive Mitglieder und Freunde der Wanderverbände, die es überall in Deutschland und den umliegenden Ländern gibt. Engagierte Mitglieder regionaler Gruppen haben über Jahrzehnte geholfen, durchgehende Wanderwege über tausende Grundstücke zu planen, auszuhandeln und umzusetzen.

Zu den vielen regionalen Wandergruppen gehört in unserem Landkreis die sehr aktive Wanderbewegung Lüneburg. Über die Vorsitzende Hilke Mammen gelang es mir, den Kontakt zu dem für unseren Wegeabschnitt zuständigen Wegewart, Carl-Henry Dahms, herzustellen. Mit diesem verabredete ich mich, um ihn zu befragen und ihm bei der Arbeit zuzuschauen.

Über 150 Kilometer umfasst sein „Revier“

Ich traf mich mit Herrn Dahms in Reeßeln und stellte ihm dort eine Menge Fragen. Natürlich wollte ich wissen, wie er zum Wandern gekommen sei. Der topfitte 83jährige erzählte, wie er nach der Pensionierung mit seiner Frau das Weitwandern als Hobby entdeckt habe. Schnell war er fasziniert von der Idee der Fernwanderwege. Da er beim Wandern feststellte, dass es an manchen Strecken an der Pflege haperte, bot er sich schließlich an, einen Teil des E6 zu betreuen. Geduldig beantwortete Herr Dahms alle meine Fragen: „Wie lang ist die Wegstrecke des E6, die Sie betreuen?“ – „151 km, von Güster (bei Mölln) bis Bad Bodenteich (östlich von Uelzen).“

„Und was muss so ein ehrenamtlicher Wegewart machen?“ – „In erster Linie die Wegemarkierungen überprüfen und vervollständigen. Die Markierungen müssen von jeder Richtung aus zu sehen sein und besonders bei Abzweigungen klar zu erkennen! Außerdem halte ich Kontakt zu den Touristeneinrichtungen in Lauenburg, Bleckede und Bad Bodenteich.“

„Ich schaffe zwei bis drei Kilometer pro Stunde“

„Wieviel Zeit brauchen Sie für die Pflegearbeiten?“ – „Ich gehe die Strecke einmal im Jahr, jedes Jahr wechsle ich die Richtung, um beide Perspektiven zu haben. Da ich nur 2 bis 3 km in der Stunde schaffe, brauche ich ca. 14 einzelne Tage. Weil ich ja wieder zum Ausgangspunkt zurück muss, teile ich mir die Strecken möglichst ein in verkehrsgünstige Abschnitte.“

Ein neugieriger Blick in den Rucksack

Da die Belastung mit Gepäck ja ein zusätzliches Erschwernis bedeutet, interessierte es mich, was so ein Wegewart alles mit sich führen muss: „Oh, das ist außer Proviant für den Tag so einiges. Im Rucksack habe ich einen Falthocker aus Plastik, meine Mappe mit Unterlagen wie Karte und Wegebeschreibung, dann Wegweiser und Klebekreuze, Hammer, Kneifzange, Klappsäge, Schaber, Nageltasche, Schere, Rosenschere, Drahtbürste, Beutel für Abfall, Lappen, Farbtopf, weisse Farbe, Verbandszeug, Terpentin, Bleistift, Kugelschreiber, Papier, Bindfaden, Draht und nicht zuletzt auch etwas Klopapier – für alle Fälle.“

Berührende Wanderbücher von der Viehler Höhe

Sehr bewegt haben mich alte Wanderbücher, die Herr Dahms mitgebracht hatte. Sie lagen jahrelang auf der Viehler Höhe aus, und Wanderer konnten ihre Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck bringen. Ins Auge fiel mir ein Beitrag zur Tragödie der deutschen Teilung. Ein „Wilhelm“, der 1958 aus der DDR geflohen war, kam mit Kindern und Frau auf die Höhe, um seinen drüben gebliebenen Bruder und Schulfreunde beim Heumachen zu sehen! Auch andere Beiträge bezogen sich auf den Blick nach „drüben“, auf die „feindliche“ Seite eines geteilten Landes…

Leider musste die Idee der öffentlichen Wanderbücher auf der Viehler Höhe aufgegeben werden, weil es immer wieder  Vandalismus gab.

Auf Schusters Rappen nach Italien und Slowenien

Begeistert erzählte Herr Dahms, wie er den Fernwanderweg E1 von Flensburg südwärts über die Alpen bis Genua und von da an weiter mit seiner Frau (die nach Genua hinterhergeflogen ist) bis La Spezia gewandert ist! Auch auf unserem E6 ist er natürlich gelaufen, nach Österreich und weiter durch Slowenien!

Das Treffen mit Herrn Dahms hat mich tief beeindruckt. Seit unserer Begegnung habe ich ganz großen Respekt vor solchem Engagement und eine völlig neue Wertschätzung der von Idealisten geschaffenen Fernwanderwege.

Kontakt: wanderbewegung-lüneburg.de

Schreibe einen Kommentar